11
Sep
2015
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Ich bin doch nicht die Caritas! Und der gute Lodsch ist kein Ungar.

Der Sommer ist vorbei, das Thema dieses Sommers noch lange nicht. Warum uns die Folgen von Krieg und Flucht gerade jetzt so bewegen, obwohl so viele Menschen seit so langer Zeit und überall auf der Welt Krieg, Zerstörung und Tod ausgesetzt sind, hat wohl nicht nur mit den nackten Flüchtlingszahlen zu tun. Wir können die Folgen jetzt sehen und sogar be-greifen – vor unserer eigenen Haustür, in unseren Städten und an unseren Bahnhöfen. Da sind sie plötzlich so viel echter als im Fernsehen und in den online-Nachrichten. Und auf einmal erkennen wir, dass das alles ja unsere ganze Welt verändern kann.

Die starke Auseinandersetzung mit dem Thema Flucht hat aber wohl noch weitere Gründe. Vielleicht ist sie auch eine Folge unseres so öffentlich gewordenen Meinungsaustausches, der uns digital noch ein wenig leichter über die Lippen und Finger zu gehen scheint, als im echten Leben. Durch ihn wissen wir  spätestens seit diesem Sommer, wie viel Ablehnung, Hass, Gleichgültigkeit und bestimmt vor allem Angst tatsächlich in unserem Volk steckt – gegenüber Menschen, die doch eigentlich nur eines versuchen: zu überleben. Hätten wir gedacht, dass Leute kleinen Mädchen den Tod durch Flammenwerfer wünschen oder dass ein herangespülter toter 3-Jähriger digitalen Applaus auslöst? Das zu sehen, zu hören und zu spüren war vielleicht eines der Alarmsignale, die uns bewusst werden ließen, wie bedeutend es gerade jetzt ist, eine Meinung zu haben, eine Haltung. Dass es wichtig ist, Zeichen zu setzen, zu handeln, klar zu stellen, auf welcher Seite wir stehen. Und dass es gefährlich werden kann, sich in solchen Zeiten seiner Stimme zu enthalten und unpolitisch zu sein, um unangenehme Situationen zu vermeiden.

Über das Tragische

Und ein weiterer Grund, warum uns die Flüchtlingsthematik wohl vor allem jetzt, wo wir sie sehen und berühren können, so mitnimmt, ist vielleicht auch die Erkenntnis, dass all dieses Schreckliche Menschen trifft, die in ihrem Leben nichts anderes getan haben, als wir alle: gelernt, gearbeitet, gelebt, gestritten, geliebt, Familien gegründet, Kinder in die Welt gesetzt. Bis eines Tages ihr Haus zerbombt wurde, ihre Familie oder beides und noch viel mehr. Es ist die Erkenntnis, dass wir nicht in unserem sicheren Zuhause sitzen, weil wir alles richtig gemacht haben, oder besser. Weil wir die besseren oder klügeren Menschen sind. Sondern aus nur einem Grund: Glück. Nur deshalb, weil wir nicht ein paar Tausend Kilometer weiter drüben auf der Landkarte geboren wurden und aufwuchsen, nehmen wir jetzt Flüchtlinge auf anstatt welche zu sein. Es ist vielleicht das Bewusstsein über diese unverschuldete Tragödie, das uns noch klarer sehen und mitfühlen lässt.

Was das Tragische genau ist, darüber hatte ich mir bis zu diesem erhellenden Radiobeitrag keine Gedanken gemacht. Abgeleitet von dem griechischen Wort Tragodía, das sich aus Tragos für „Bock“ und Odé für „Gesang“ zusammensetzt, bedeutete die Tragödie nämlich ursprünglich lediglich so etwas wie „Bocksgesang“ und bezog sich auf griechische Tragödien, in denen Schauspieler noch Masken trugen, wie etwa die eines Mischwesens aus Mensch und Ziegenbock. „Tragisch“ bedeutete also einfach „zu dieser Tragödie zugehörig“. Zum Archetypen der Tragödie wurde dann die Geschichte von König Ödipus, der aus bloßer Unwissenheit seinen leiblichen Vater im Kampf tötete und seine leibliche Mutter heiratete. Die Geschichte erzählt von dem unverschuldeten, unverdienten Leid, das Ödipus traf, ohne dass er jemals böse Absichten hatte. Heute steht das Tragische für ein schreckliches Geschehen, für das es keine Begründung, keinen kausalen Zusammenhang zu geben scheint, für furchtbare Dinge, die Menschen unverhofft treffen, ganz unabhängig davon, ob sie „gut“ oder „böse“ waren, ob sie alles „richtig“ gemacht haben oder nicht. Ein Blitz kann einen Schwerverbrecher treffen genauso wie ein unschuldiges kleines Mädchen. Das Tragische kennt keine Vernunft und kein Mitleid.

Flucht ist keine Tragödie

Schicksal wird das dann manchmal genannt, um einen Grund für schreckliche Ereignisse zu finden, die wir uns einfach nicht erklären können. Warum müssen diese syrischen Familien so viel unvorstellbares Leid ertragen und wir nicht? Wir halten es nur schwer aus, das als pures Glück zu sehen, als Zufall. Hetzer gehen sogar so weit zu sagen, diese Menschen, diese Völker hätten selbst Schuld an ihrem Leid. Und diese Denkweise ist ja auch nachvollziehbar, denn auch die härteste Seele wird es nicht ertragen können, Menschen leiden und sterben zu lassen, ohne für sich eine plausible Begründung dafür zu finden.

Ist die Flucht dieser Menschen also nun eine Tragödie? Unserem Verständnis nach schon, der Definition zufolge kann sie es im Grunde jedoch nicht sein. Denn das Tragische definiert sich dadurch, dass es keine Ursache und keine Schuldigen hat, dass es unvorhersehbar und ohne Absicht geschieht. Es gibt aber klare Gründe, warum diese Menschen fliehen und all dieses Leid ertragen müssen: Krieg. Und es gibt auch Schuldige. Somit ist die Flucht wohl keine Tragödie, sondern einfach ein unvorstellbarer Horror, der von grausamen Verbreche(r)n ausgelöst wird.

Doch, wir sind die Caritas!

Jetzt gibt es da so viele Menschen, nicht nur in Österreich und Deutschland, die den doch tragischen Aspekt des unverschuldeten Leids dieser vielen Menschen bewusster wahrnehmen denn je und spüren, wie stark unser Leben und sein Verlauf von Glück und Pech geprägt ist. Dass es genauso uns hätte treffen können oder auch kann. Vielleicht ist es auch diese Erkenntnis, die uns so viel mehr und noch viel überzeugter für das Gute in der Welt kämpfen lässt als bisher. Die dafür sorgt, dass Tausende Menschen für die Unterstützung von Schutzsuchenden demonstrieren und dass an unseren Bahnhöfen und in Flüchtlingslagern Hunderte Freiwillige tonnenweise Lebensmittel und andere Hilfsgüter abgeben. Wir wollen helfen. Und warum? Ich bin doch nicht die Caritas! – Haben wir vielleicht in unserem Leben schon empört verlautbart, wenn unbezahlte, unerwiderte Hilfe von uns erwartet wurde. Und übersetzt heißt das oft: Ich bin doch nicht blöd und lass mich ausnutzen! Doch spätestens diesen Sommer haben wir erkannt, wie gar nicht blöd die Caritas, die Diakonie, das Rote Kreuz und die vielen anderen kirchlichen und nicht-kirchlichen Hilfsorganisationen sind. Und ganz ganz viele Menschen haben gezeigt, dass sie sehr wohl die Caritas sein wollen. Und auch sind.

Vom barmherzigen Samariter und dem guten Lodsch

Das „Gute“ schneidet aber eben leider in unserer Kultur und auch in unserer Sprache oft nicht besonders gut ab. Über den Begriff des Gutmenschen hat sich ja in den vergangenen Monaten nicht nur das Sprachperlenspiel Gedanken gemacht. Ein Wort, in dem sprachlich viel Gutes steckt, das aber selten positiv verwendet wird. Und auch ein guter Samariter ist im Grunde gut – er ist es schließlich, der selbstlos seine Hilfe anbietet wie der barmherzige Samariter in der Bibel – und doch betrachten wir unsere heutigen guten Samariter oft ein wenig hämisch, vielleicht sogar als Gutmenschen. Anscheinend haben wir gelernt, dass es das selbstlos Gute so nicht geben kann, dass es immer einen egoistischen Grund für scheinbar selbstlose Hilfe geben muss – Gewissensbefriedigung, Existenzberechtigung, Selbstwertbestimmung. Oder eben, dass der Gute, bzw. vor allem der Gutmütige schwach sein muss, ohnehin ausgenutzt wird und sich in der Welt niemals durchsetzen kann.

So wie auch der gute Lodsch, von dem man vor allem in Ostösterreich spricht. Woher sich der Lodsch ableitet, ist nicht gänzlich geklärt, doch es liegt die Vermutung nahe, dass er auf den ungarischen Namen Lajos zurückgeht. Nun fällt es in Tagen (und Themen) wie diesen ja leider schwer, das Gute ausgerechnet mit Ungarn in Verbindung zu bringen. Dazu sei gesagt: Der ungarische Lajos ist wohl eine Übersetzung des französischen Louis und dieser wiederum stammt vom deutschen Ludwig ab. Der Name Ludwig beinhaltet die Silben hluth (Althochdeutsch für „berühmt“) und wig (Althochdeutsch für „Kampf“ oder „Krieg“) und bezeichnet demnach eigentlich einen „berühmten Krieger“. Was wir daraus schließen können? Vielleicht, dass hinter dem gutmütigen Ungaren doch ein kriegerischer Deutscher steckt. Oder aber, dass der Ungar natürlich auch ein guter Typ sein kann, weil wir ja jetzt wissen, wie viel Gutes in jedem Volk trotz noch so großer Angst und Ablehnung oder sogar Hass stecken kann.

 

Zusätzliche (zu den hier genannten) Quellen:
Radio Bayern 2: RadioWissen Philosophische Gedanken zur Tragik
comandantina.com: Der gute Lodsch

Urheberrecht Bild: lightwise, 123rf

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