30
Dez
2014
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Die Zeit ist ein gefräßiger alter Mann. Doch heilen kann er.

Wieso ist es wohl so, dass jedes neue Jahr ein wenig schneller vorbei geht als das vorhergehende? Als Kind dauert ein Jahr eine Ewigkeit. Mittlerweile fühlt es sich jedes Silvester so an, als hätte das Jahr doch gerade erst begonnen. Und was, wenn das immer so weiter geht? Bedeutet das vielleicht, dass wir nach unserem ersten Lebensdrittel gefühlt schon die Hälfte unserer Lebens hinter uns haben? Oder noch mehr?

Auf ihre Weise ist die Zeit die stille Herrscherin der Welt. Keine Religion, keine Politik, kein Geld ist so mächtig und unbezwingbar wie sie. Leider herrscht sie nicht immer als geliebte, gütige Macht. Meistens jagt sie uns eher Angst ein. Sie ist unbarmherzig, „lässt sich nicht aufhalten“ und „sitzt uns oft im Nacken“. Fast immer vergeht sie „wie im Flug“ oder auch „im Nu“, sie „rast an uns vorbei“ und manchmal „arbeitet sie auch gegen uns“.

Ganz alt mit Bart

Wer die Zeit eigentlich ist ­– darüber haben sich die Menschen anscheinend schon immer Gedanken gemacht. Die Zeit, die im Deutschen weiblich ist, wurde bereits in der Antike personifiziert – allerdings nicht als Frau, sondern als alter Mann: „Chronos“ ist in der griechischen Mythologie der Gott der Zeit und ist uns bis heute in Wörtern wie „Chronologie“ oder „Chronik“ erhalten geblieben. Er begegnet uns als dürrer Greis mit grauem Haar, grauem Bart und großen Flügeln. In den Händen hält er eine Sanduhr und eine Sense, die als Symbole für Vergänglichkeit und Tod diese so bedrohliche Seite der Zeit versinnbildlichen. Aber was ist eigentlich so bedrohlich an der Zeit?

Gefräßige Zeit und neidisches Alter

Meistens ist die Zeit einfach da. Aber manchmal, da sehen wir ihr direkt in die Augen und verstehen, dass sie im Grunde dazu da ist, unser Leben mit einem Anfang und einem Ende zu versehen. Sie macht die begrenzte Dauer unserer Wirklichkeit so mess- und zählbar. Sie beweist uns, dass ein Teil unserer Jahre bereits verlebt ist und nie mehr zurückgeholt werden kann.

Nichts und niemand kann die Zeit aufhalten. Nicht einmal festhalten können wir sie. Jeden Augenblick nimmt sie einen weiteren Moment unwiederbringbar mit sich. Wir versuchen zwar, diese Momente festzuhalten – mit Bildern und Wörtern. Aber sie werden immer Erinnerungen bleiben und nie wieder in unsere Wirklichkeit zurückkommen.

Die Zeit hinterlässt außerdem ihre Spuren. Überall und auch an uns. Da können wir nachhelfen, so viel wir wollen, irgendwann kriegt er uns doch wieder – „der Zahn der Zeit“, der an uns nagt. Dieses Bild der nagenden Zeit geht eigentlich zurück auf Shakespeares Stück Maß für Maß, wo es dem „tooth of time“ zu trotzen gilt. Doch ein ähnliches Bild dieser zerstörerischen Kraft wurde schon viel früher gezeichnet – von dem römischen Dichter Ovid in seinen Metamorphosen, vermutlich irgendwann zwischen Jahr 1 und Jahr 8 n.Chr., mit den Worten:

„Zeit, du gefräßigste du, und du, du neidisches Alter, alles zerstört ihr, verzehrt allmählich, was vorher der Stunden Zähne benagt und geschwächt, in langsam schleichendem Tode.“

Sie heilt, berät und bleibt, solange wir sie nutzen

Aber wie immer im Leben ist nichts nur gut oder nur böse. Und so hat auch die Zeit ihre schönen, helfenden Seiten.

„Die Zeit heilt alle Wunden“ ist eine scheinbar dahergesagte Phrase, die doch viel Wahrheit in sich trägt. Tatsächlich ist die Zeit nämlich in vielen Fällen die einzige, die Schmerzen – auch die ganz großen – wirklich lindern kann. Verletzungen, Verluste, Niederlagen, Trauer (und nicht zuletzt Geburtserlebnisse!) kann sie zu Erinnerungen machen, die so gar keine Schmerzen mehr hervorrufen. Das ist doch ganz schön mächtig. Und ganz schön gut.

„Kommt Zeit, kommt Rat“ beschreibt eine zweite, große Qualität der Zeit als Löserin von Problemen und Bantworterin unserer Fragen. Oft müssen wir gar nicht rackern und ringen und grübeln, um das Richtige zu tun oder zu wählen. Oft macht das die Zeit für uns und nimmt damit doch eine große Last von unseren Schultern.

Wir können sie aber auch einfach genießen – die Zeit. Und das Leben. Der alte Mann darf uns ruhig begleiten. Er soll sich nur bitte nicht ständig in den Mittelpunkt drängen und uns seine Sanduhr vor die Nase halten. Wir sollten im Gegenzug vielleicht nicht dauernd an ihm herumnörgeln. Das Leben ist vielleicht kurz, aber dann auch wieder lange genug für das, was es wirklich ausmacht. Oder, wie es Leonardo da Vinci sehr treffend formulierte: „Die Zeit verweilt lange genug für denjenigen, der sie nutzen will.“

 

 

Bild: Ignaz Günther via Wikimedia Commons

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