Jeden Tag leben als wäre es mein letzter? – Niemals.
Sie sind vielleicht keine echten Redensarten, Redewendungen oder Sprichwörter. Für mich sind sie oft auch alles andere als sprachliche Perlen, aber so richtig entkommen kann man ihnen nun einmal nicht: den Kalendersprüchen.
Es gibt zu ihnen auch nicht viel zu erklären, da sie ohnehin meistens mit dem Holzhammer daherkommen – gute Tipps und Ratschläge, die sich als tiefsinnige Lebenshilfe ausgeben und dabei eher wie Drohungen klingen:
- Eine Freundschaft, die endet, hat nie begonnen.
- Sei du selbst, alle anderen gibt es schon.
- Du kannst erst die richtige Person finden, wenn du die falsche gehen lässt.
Nein, ich mag solche Sprüche nicht. Und einen hasse ich ganz besonders.
Lebe jeden Tag, als wäre es dein letzter.
Ich weiß, das Leben ist kurz, man darf nichts versäumen, oft geht es schneller, als man denkt, blablabla. Wir können uns diese Horror-Erkenntnisse bestimmt regelmäßig ins Bewusstsein rufen, um auch ja nicht allzu unbeschwert zu leben. Ich frage mich nur – wem hat das jemals etwas gebracht? Ich versuche jetzt einmal, zu beschreiben, wie ich einen Tag verbrächte, wenn es mein letzter wäre.
Ich würde weinen.
Ich würde so sehr weinen, dass ich voraussichtlich nicht in der Lage wäre, irgendetwas anderes zu tun.
Ich würde weinen, weil klar wäre, dass ich an einem einzigen Tag nie all das erledigen könnte, was es zu erledigen gäbe. Wer soll das alles regeln, all die offenen Fragen beantworten, wenn ich ab morgen nicht mehr da bin?
Ich würde auch weinen, weil ich nicht mehr all das essen und trinken, sehen, tun und erleben könnte, was ich noch gerne in meinem Leben essen, trinken, sehen, tun und erleben wollte. Das kam doch so plötzlich. Wofür soll ich mich entscheiden? Spazieren? Baden? Tanzen? Sex? Soll ich mich betrinken? Nein! Bloß nichts versäumen. Soll ich zu Hause bleiben? Hinaus gehen? Wegfahren? Auf einen Berg wandern um noch einmal so viel wie möglich zu sehen? Was für ein furchtbarer Stress.
Ich würde weinen, weil mir bewusst würde, dass ich den Geruch der allerersten Frühlingstage, den ersten Schnee, ein Gewitter im Juli, Weihnachten, Silvester, eine lange Reise mit Ankunft am Meer oder auch die bunten Blätter im Herbst bereits ein letztes Mal erlebt haben würde.
Ich würde weinen, weil klar wäre, dass ich mit den meisten meiner Freunde – ohne es zu wissen – bereits ein letztes Mal gesprochen hätte. Ich kann doch in so kurzer Zeit gar nicht alle anrufen. Und was würde es bringen – ich würde ohnehin nur weinen.
Ich würde weinen, weil ich keine Minute meines Lebens mehr glücklich und unbeschwert verbringen würde – ohne den Gedanken daran, dass doch im Grunde schon alles vorbei ist.
Am allermeisten würde ich aber weinen, weil ich wüsste, dass ich in wenigen Stunden Abschied von meiner Familie nehmen müsste. Nein, ich würde nicht weinen, ich würde zusammenbrechen bei dem Gedanken, dass mein Mann und mein geliebtes Kind von nun an ohne mich leben müssten. Dass ich nie wieder mit ihnen einschlafen, nie wieder neben ihnen aufwachen würde, nie wieder ihr Lächeln sehen, sie nie wieder riechen und spüren könnte. Dass ich ein schmerzhaftes, blutendes Loch in ihre Herzen reißen, sie für immer im Stich lassen würde. Dass mein kleines Mädchen ohne seine Mama aufwachsen würde. Ich würde weinen, ohne Unterlass schreien und mich wahrscheinlich vor Schmerzen am Boden winden.
Das würde ich tun, wenn ich einen Tag leben müsste, als wäre er mein letzter. Deshalb wünsche ich mir, dass ich in Zukunft von diesem grauenhaften Spruch verschont bleibe. Ich wünsche mir und jedem anderen, dass wir jeden Tag unseres Lebens verbringen können, als gäbe es noch unendlich viele davon. Dass wir so unbeschwert leben können, als gäbe es die Zeit gar nicht. Und wenn das nicht geht, wünsche ich uns, dass wir zumindest das beherzigen, was Jean-Jaques Rousseau im Jahr Siebzenhundertirgendwas gesagt hat: “Beginne jeden Tag als wäre es Absicht.“
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