Jeder ist sich selbst der Nächste. Außer es geht ums Blut.
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ ist mit, ohne oder auch trotz Religionsunterricht ein Gebot, das fest in unserem Wertesystem verankert ist. Die Nächstenliebe als ethisches Grundmotiv verbindet uns über Religionen und Kulturen hinweg und ist auch ein zentrales Thema im Neuen Testament. Dabei handelt die biblische Nächstenliebe vor allem davon, unsere Mitmenschen zu achten und ihnen helfend zur Seite zu stehen. Um echte Liebe geht es dabei weniger. Aber wenn wir ehrlich sind, würden wir doch sowieso nie einen anderen Menschen so sehr lieben wie uns selbst. Es sei denn, wir haben ihn oder sie zur Welt gebracht.
Wenn wir schon beim Thema Kinder sind…
Man kann das nicht oft genug sagen: ein Kind verändert doch einfach alles. Das kann ganz schön hart sein, wenn etwa das selbstbestimmte Leben und die Freiheit von heute auf morgen vorbei sind und einzig der Instinkt bleibt, dafür zu sorgen, dass es einem anderen Lebewesen gut geht. Oder wenn uns die Erkenntnis wie der Blitz trifft, dass es von nun an einen Menschen auf der Welt gibt, der uns immer wichtiger sein wird als wir selbst. Denn das, wage ich zu behaupten, gab es bis dahin nicht.
Das Elternsein kann aber auch ganz schön wohltuend sein, weil sich die Prioritäten tatsächlich verschieben und das eigene Ego endlich einmal ein bisschen Pause bekommt. Wirklich zu spüren, wie wenig Bedeutung die eigene Eitelkeit im Grunde hat – das gibt doch wiederum ganz schön viel Freiheit zurück.
Das Fleisch und das Blut
Zurück zum Thema: Abgesehen von der Ausnahme der eigenen Kinder (und vielleicht in Situationen, wo wir unser gesamtes Leben auf eine andere Person projizieren) werden wir wohl nie, niemals ein anderes Lebewesen so sehr lieben wie uns selbst, oder gar mehr. Und mit dieser Meinung bin ich anscheinend nicht ganz alleine, denn genauso (oder so ähnlich) wird es tagtäglich von vielen Menschen mit folgender Wendung ausgedrückt: Jeder ist sich selbst der Nächste. Eine im Grunde ironische Abwandlung jenes Gebots („Liebe deinen Nächsten wie dich selbst”) , das uns seit frühester Kindheit in Fleisch und Blut übergegangen sein sollte. Womit wir beim nächsten und irgendwie selben Thema wären: das Fleisch und Blut. Oft wird damit von den eigenen Kindern gesprochen. Und auch hier führen die Spuren zurück zur Bibel (1. Buch Mose, 37, 27), wo mit „Fleisch und Blut“ die nächsten Artverwandten bezeichnet werden. Der Begriff Blutsverwandtschaft wird bis heute in der Rechtssprache verwendet und beschreibt dort ein wenig allgemeiner eine genetische Verwandtschaft bzw. die Abstammung zweier oder mehrerer Personen von denselben Vorfahren.
Blut ist dicker als Wasser – na und?
Den Kreis schließen kann ein Sprichwort, das einmal mehr ausdrückt, wen wir immer ein bisschen mehr lieben werden als unsere einfachen „Nächsten”. Blut ist dicker als Wasser bedeutet doch, dass uns die Familie – das eigene Blut – im Zweifelsfall immer wichtiger oder „näher“ sein wird als alle anderen Menschen. Zumindest verstehen und verwenden wir es heute so. Aber was bedeutet dann das Wasser?
Es besteht der Verdacht, dass das Sprichwort ursprünglich genau umgekehrte Bedeutung hatte und auf Zeiten zurückgeht, als Verträge „im Blute“ besiegelt wurden. Anscheinend gab es den Brauch, dass Vertragspartner bei Vertragsabschluss im Blut eines zuvor geschlachteten Tieres standen. Vielleicht spielt hier aber auch der Aspekt der Blutsbrüderschaft eine Rolle. Die so geknüpften Blutsbande waren jedenfalls stärker als eine bloße Verbindung von Brüdern durch Wasser – womit wohl das Fruchtwasser der Mutter gemeint war. Ob das stimmen kann? Leider erwähnen die Wörterbücher diese Geschichte mit keinem Wort, doch im Internet findet sie sich recht häufig (jedoch quellenlos, wie zum Beispiel hier oder auf Englisch auch hier). Wie so oft können wir uns hier also wahrscheinlich aussuchen, was wir glauben.
Ich bleibe allerdings dabei. Die selbstlose Liebe gehört nur den Kindern. Und da im Grunde auch nur den eigenen. Aber wer es zumindest schafft, allen Nächsten achtsam und hilfsbereit zu begegnen, der macht doch schon ziemlich viel richtig.
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ja, so isses. normalerweise.